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Warum ich manches nicht verzeihe
Und du es auch nicht tun solltest
„Geben ist seliger denn Nehmen. Irren ist menschlich. Vergeben göttlich. Es ist doch schon so lange her. Jetzt komm doch endlich darüber weg. Zu verzeihen wird dir guttun.“ Früher habe ich auf diese Sprüche und Floskeln nicht nur gehört. Ich habe mir durch sie ein schlechtes Gewissen einreden lassen und mich unfähig gefühlt. Geht es dir ähnlich? Finde heraus, warum du nicht vergeben und vergessen, sondern das Vergeben vergessen solltest.
Vergeben ist keine Tugend
Belogen, betrogen, hintergangen, ausgenutzt – ob es sich um einen Vertrauensmissbrauch oder Schlimmeres handelt, dem Täter zu vergeben und zu verzeihen, alles zu vergessen, das ist göttlich. Zumindest wird das behauptet und uns ständig eingetrichtert. Wer vergibt und vergisst, beweist Größe, heißt es.
Mitunter schreien die Täter selbst nach dem Verzeihen oder werfen dir vor, nachtragend und unreif zu sein, wenn du nicht mit einem Fingerschnips darüber hinwegkommst.
Das ist aus vielen Gründen mehr als problematisch.
Verantwortung wird auf das Opfer übertragen
Jemandem zu verzeihen ist selbst dann schwierig, wenn etwas aus Versehen oder aus einem Missverständnis heraus zu verletzten Gefühlen führt. Handelte es sich hingegen um pure Absicht, fehlt eine aufrichtige Entschuldigung, die Einsicht und wird dann auch noch Vergebung gefordert? Dann ist das Verzeihen nicht nur eine Kunst. Es sollte schlicht nicht erfolgen.
Vergebung will und soll verdient sein. Leider ist das ein Punkt, der nur allzu oft vergessen wird. Die Verantwortung, das Vergeben überhaupt erst zu ermöglichen, liegt also beim Täter. Dazu gehört mehr als die Worte „Es tut mir leid“ auszusprechen. Auch, wenn das ein guter Anfang ist.
Wer verlangt, dass du verzeihst und keinen Finger rührt, damit du vergeben und vergessen kannst, schiebt die Verantwortung auf dich ab. Immerhin hat dich die Person schon verletzt. Da ist es nur fair, dass du nun auch aktiv wirst. Klingt unlogisch? Ist es auch. Aber so funktioniert es, wenn auf das Vergeben gepocht wird.
Zeit heilt alle Wunden. Oder?
Vieles im Leben ist rückblickend weit weniger dramatisch, als es im ersten Moment erscheint. Ja, über manches muss lediglich etwas Gras wachsen, damit es nicht mehr schmerzt oder Wut erzeugt. Anderes ist hingegen auch noch Jahre später eine klaffende Wunde.
Denn Zeit allein heilt eben nicht alles. Das gilt vor allem dann, wenn der Verursacher sich weder aufrichtig entschuldigt noch etwas unternimmt, um die entstandenen Verletzungen zumindest zu lindern.
Wirft dir also jemand vor, du seist nachtragend oder stecken geblieben, nutze Reframing.
„Das ist schon x Jahre her, komm darüber hinweg!“
„Ja, es ist schon x Jahre her und verletzt mich immer noch. Das allein sollte dir zu denken geben. Du hattest x Jahre Zeit, um dich zu entschuldigen, es so zu meinen und die Verantwortung für dein Handeln zu übernehmen. Fang doch endlich mal damit an.“
Hierdurch bleibt die Verantwortung exakt da, wo sie hingehört. Beim Verursacher.
Verzeih dir selbst
Belogen, betrogen, hintergangen, ausgenutzt – das Absurde daran ist, dass Betroffene sich oftmals zumindest eine Teilschuld geben.
„Hätte ich doch nur noch mehr gemacht.“
„Wäre ich doch noch perfekter gewesen.“
„Hätte ich meine Grenzen doch klarer gezogen.“
„Wäre ich attraktiver gewesen.“
Halbwahrheiten und vermeintliche Weisheiten wie: „Zum Fremdgehen gehören immer zwei.“, begünstigen diesen Zustand noch. Wurdest du schlecht behandelt, musst du auf irgendeine Art und Weise selbst schuld daran sein.
Tatsächlich stimmt es, dass erwachsene und freie Menschen oftmals mehr an ihrem Zustand ändern können, als viele glauben. Dennoch hat niemand das Recht, dich oder dein Vertrauen auszunutzen. Am verletzenden Verhalten anderer trifft dich keine Schuld. Und auch nicht daran, auf sie hereingefallen zu sein.
Am wichtigsten sind daher zwei Dinge. Zum einen musst du dir selbst verzeihen. Zum anderen solltest du die Chance nutzen, um für dich einen verbesserten Selbstschutz aufzubauen und Konsequenzen aus der Erfahrung zu ziehen. Hat dir der Mensch gerade sein wahres Gesicht gezeigt, indem er Vergeben und Vergessen verlangt und gar nicht auf deine Gefühle eingeht? Möchtest du das wieder und wieder erleben?
Absolut jeder kann andere Menschen aus Versehen verletzen. Wie er im Anschluss damit umgeht, verrät deutlich mehr über seinen Charakter als er absichtlich verraten möchte. Emotional reife Menschen übernehmen die Verantwortung für ihr Handeln und weichen ihr nicht aus. Ihnen ist daran gelegen, verursachte Verletzungen wieder zu lindern und in Zukunft das verletzende Verhalten zu vermeiden.
Andere werden dich verletzen, dir die Schuld dafür in die Schuhe schieben und fordern, dass du darüber hinwegkommst. Was genau willst du daran vergeben und warum solltest du? Lern daraus und halte Abstand. Du verdienst Besseres!
Autorin Jessika Mueller