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Das Stigma des Escorts und warum wir uns davon lösen müssen
Begleitherren, Begleitdamen und Sexarbeiter*innen im Interview
Sexarbeiter gehen angeblich dem ältesten Gewerbe der Welt nach und genießen in unserer Gesellschaft doch kein Ansehen. Trotz der langen Tradition, der ungebrochenen Nachfrage und der Vielseitigkeit ihrer beruflichen Tätigkeit werden sie häufig ausgegrenzt. Dabei haben sie nicht nur interessante Geschichten zu erzählen, sondern leisten bei Weitem mehr als die gewissen Stunden.
Sex als Service? Es ist so viel mehr!
In den folgenden Interview-Auszügen kommen Menschen zu Wort, die vieles gesehen und erlebt haben. Im weitesten Sinne als Sexarbeiter bekannt, finden sich Escorts, Prostituierte, Aufklärer, Vermittler und Therapeuten wieder, die um die Wichtigkeit menschlicher Kontakte auf allen Ebenen wissen.
*Alle Namen wurden zur Wahrung des Datenschutzes, der Anonymität und persönlichen Sicherheit von der GentsHeaven-Redaktion geändert.
Trixi*: Viele wollen reden
Wenn Menschen an Prostitution denken, haben sie ein bestimmtes Bild im Kopf. Sei es das Bordell, der Strip-Club oder die Straßenecke und knappe Röcke. Wie sieht dein Berufsalltag wirklich aus?
Trixi: Das Bild aus Film und Fernsehen hat mit meinem Alltag wenig zu tun. Ja, es gibt sie, die Menschen – das sage ich ganz bewusst, denn es sind nicht nur Männer – die schnellen, unkomplizierten Sex möchten. Aber es sind längst nicht alle. Nicht einmal die Mehrheit. Da gibt es das Paar, das Abwechslung will. Den jungen Mann, der unsicher ist und seine Freundin nicht enttäuschen möchte. Die junge Frau, die in ihrer sexuellen Orientierung unsicher ist und sich ausprobieren will. Ganz oft höre ich einfach nur zu und erzähle.
Die Vorstellung vom rücksichtslosen und routinierten Freier stimmt also nicht?
Es gibt Stammkunden, es gibt Interessenten und es gibt natürlich auch Menschen, die mit einer verachtenden Einstellung ankommen. Nur sind die entgegen der allgemeinen Meinung in der Minderheit. Viel öfter geht es um das Zuhören und ums Dasein, um Aufklärung und um Verständnis.
Carl*: Ich bin die Schulter zum Anlehnen und der Partner in Crime
Male Escorts sind immer noch eher rar gesät. Gerade die mit einem hohen Standard. Wie kommst du überhaupt dazu, dich zu verkaufen?
Carl: Ich verkaufe mich, seit ich berufstätig bin. Ich verkaufe meine Zeit, mein Wissen, meine Fertigkeiten. Nichts anderes mache ich jetzt. Nur sitze ich dabei nicht mehr im Büro, sondern helfe direkt einem Menschen.
Du siehst also keinen Unterschied zwischen Prostitution und anderen Berufen?
Carl: Ja und nein. Prostitution hat einen schlechten Ruf. Aber das haben andere, wichtige Berufe ebenfalls. Müllabfuhr klingt nicht so cool wie Feuerwehr. Dabei ist sie alles, aber nicht unwichtig. Krankenpfleger klingt weniger wichtig als Arzt, dabei kommt das gesamte Gesundheitssystem schnell zum Erliegen, wenn die Pflegekräfte fehlen. Escort klingt auch weniger wichtig als Therapeut oder Begleiter, dabei ist der Beruf nicht weniger wichtig.
Woran liegt das, deiner Meinung nach?
Carl: Tabuisierung, Stigmatisierung, Doppelmoral. Sex ist etwas, das (sich) verkauft. Das war schon immer so und das wird sich so schnell nicht ändern. Wir schauen uns auf der Straße, im Fernsehen und online den ganzen Tag halbnackte Menschen an. Trotzdem ertönt immer noch ein Aufschrei, wenn jemand zu viel Haut zeigt. Am Strand und in der Sauna betreiben wir FKK. Im Alltag werden wir einerseits abgestumpft und betreiben gleichzeitig Victim Shaming, wenn jemand zu nackig ist. Dass Menschen sexuelle Wesen sind und viele entsprechende Bedürfnisse haben, das ist einerseits okay. Andererseits sollen diese Bedürfnisse aber bitte nur unter dem Deckmantel einer Beziehung ausgelebt werden. Die Gesellschaft ist da verquer.
So wie niemand Pornos anschaut, aber jeder sie kennt?
Carl: Ganz genau. Sexualität und Intimität gehören in der einen oder anderen Form zum Leben der meisten Menschen. Nur dazu stehen möchten wenige. Dabei ist daran nichts Schmutziges, Verworfenes oder Verwerfliches. Es ist einfach ein normaler Teil des Erwachsenenlebens. Man muss ihn nicht an die große Glocke hängen. Dafür schämen muss man sich aber auch nicht. Das wird unheimlich gerne vergessen. Genau wie der Anfang der Sexualität. Denn die beginnt nicht mit pornoreifen Darstellungen, sondern beim Entdecken des eigenen Körpers, Händchenhalten und Annäherungen.
Sofia*: Ganz anders, als ich dachte
Du hast dein eigenes Bordell auf- und ausgebaut, mit der Zeit verändert. Fühlst du dich schlecht als Frau, andere Frauen für diese Art der Arbeit zu beschäftigen?
Sofia: Haha, nein. Viele denken, die Frauen wären hier gegen ihren Willen. Das gibt es natürlich. Aber nicht bei mir. Das möchte ich für „meine“ Mädels nicht. Wer aussteigen will, bekommt Hilfe. Sich zwingen zu müssen, gibt es nicht nur in unserer Branche. Alternativen sollte es aber immer geben und die suchen wir, wenn jemand nicht mehr möchte.
Warum hast du als Titel für dein Interview „Ganz anders, als ich dachte“ gewählt?
Sofia: Weil es das von Anfang an war. Als Sexarbeiter oder als Vermittler werden einem immer noch viele Steine in den Weg gelegt. Das hatte ich so nicht erwartet. Für mich war die sichere Vermittlung wichtig. Für alle Seiten. Mich hat auch überrascht, wie viele sich zwar dafür interessieren, dann aber von den nötigen rechtlichen Schritten abgehalten werden.
Das tägliche Geschäft war ganz anders als gedacht und hat nach meiner Änderung nochmal überrascht. Es sehnen sich viele nach Wärme, Zuspruch und einem offenen Ohr. Das sind keine Männer, die das Geld auf den Tisch werfen und bedient werden wollen. Das sind ganz oft Menschen, die sich mal aussprechen möchten und müssen, Interesse an ihrem Gegenüber zeigen und einfach richtig viel auf dem Herzen haben. Die werden zu Hause nicht ernst genommen, brauchen Zuneigung und mal einen Rat von außen.
Also gibt es gar keinen bezahlten Sex?
Doch, aber das ist nicht der Hauptpunkt. Es geht viel mehr um Fallenlassen, Auffangen und Geborgenheit. Dazu kommen Paare, die ihre Beziehung auffrischen wollen und sexuell unerfahrene Menschen, die üben möchten.
Du hast eine erhebliche Änderung durchgeführt bei dir. Welche, warum und wie hat sich das ausgewirkt?
Sofia: Mit der Zeit hat sich gezeigt, dass es unserem Klientel nicht oder nur wenig um Sex geht. Stammkunden waren da. Manche waren auch ruppig und damit schnell aussortiert. Dann kam der neue Trend aus dem asiatischen Raum: Sex Dolls. Angefangen habe ich mit einer.
Jetzt hast du mehr?
Sofia: Ich kann ständig nachkaufen! Die Klientel hat sich kaum geändert. Manche wollen Fantasien ausleben, die mit einer lebensechten Puppe einfacher gehen. Männer wollen Abwechslung, ohne ihre Frau zu betrügen. Manch junger Mann will seine Kondition erhöhen. Paare möchten ihre Beziehung auffrischen, ohne danach eifersüchtig zu sein. Reden wollen die meisten immer noch, wie davor. In den Arm genommen werden, einfach mal eine Schulter, ein offenes Ohr und Verständnis. Das ersetzt keine Puppe.
Also geht es nur um Kontakt?
Was heißt „nur“? Hallo und schönen Tag noch – das ist auch Kontakt. Wirkliches Zuhören fehlt. Mal ohne Verurteilung reden können, über Schwächen und Ängste, das geht nicht so einfach. Über Tabu-Themen schon gar nicht. Da sind wir Ansprechpartner, die sich sonst nicht so einfach finden. Herzlichkeit gibt es da, wo es passt. Das missen viele.
Tom*: Man(n) lernt viel dazu
Du bist schon lange als Male Escort tätig. Wie kam es dazu und warum bleibst du dabei?
Tom: Die Begleitung zu sein bringt unwahrscheinlich viele Herausforderungen und Vorteile mit sich. Das wusste ich am Anfang aber ehrlich gesagt noch nicht. Zu Beginn war es einfach Neugier und ja, es klang einfach. Einfacher, als es tatsächlich ist. Das Geld hat natürlich eine Rolle gespielt. Darum mache ich es aber schon lange nicht mehr.
Weswegen bist du also dabeigeblieben?
Tom: Weil ich dabei Einblicke habe und Erfahrungen sammle, die kaum jemand hat. Wer wissen will, was andere Männer in Beziehungen falsch machen und Frauen besser verstehen möchte, ist damit bestens beraten. Kann ich nur empfehlen. Dafür müssen Männer aber erstmal einen hohen Standard erfüllen, daran scheitert es oft schon, obwohl sie selbst viel von Frauen erwarten. Als Male Escort erlebe ich außerdem viele Sachen, auf die ich allein gar nicht käme. Es ist also auch immer wieder spannend.
Was genau erlebst du als Male Escort? Wofür wirst du gebucht?
Tom: Da gibt es ein unwahrscheinlich großes Spektrum. Klar, es gibt Buchungen für das eine von Frauen und Paaren. Es gibt aber auch einfache Begleitung. Da bin ich als Arm Candy dabei, als Unterhalter oder als Gesprächspartner und dann schaut man eben, wie es am Ende des Treffens aussieht oder es ist von vornherein klar. Von der Ausstellung bis zum Klassentreffen, Tanzen, Vertretung für den Partner, Geschäftsessen – ich habe schon viel mitgemacht. Bis hin als Begleitherr zum Betriebsurlaub zur Resilienzbildung, inklusive Schwimmen mit Delfinen. Man(n) erlebt eine Menge, kann aber natürlich jederzeit nein sagen.
Wissen andere, dass du ein Male Escort bist?
Tom: Bisher hat das noch keine Frau herausposaunt und es hat auch keiner geahnt. Meine Freunde und Familie wissen das natürlich. Ansonsten bleibt es unter Verschluss.
Anna*: Sexarbeit ist nicht gleich Sexarbeit
Anna, du bist Sexualtherapeutin und damit in einem Bereich tätig, der vielen beim Begriff „Sexarbeit“ gar nicht erst einfällt. Wie kamst du darauf?
Anna: Ich muss gestehen, durchs Fernsehen und durchs Internet. In der Serie „Boston Legal“ kam der Beruf vor und ich habe mich im Anschluss darüber informiert. Der Grund dafür waren meine eigenen Erfahrungen. Es gibt einen großen Bedarf, wenig Aufklärung und ein riesiges Tabu, das vielen im Weg steht. Bei einer der natürlichsten Sachen der Welt.
Womit verbringst du deinen Arbeitsalltag?
Anna: Einerseits so wie andere Therapeuten auch. Erstmal wird das Problem festgestellt und nach der Ursache gesucht. Dabei kann es sich um übersteigerte Angst oder Scham handeln. In vielen Fällen ist das von den Eltern hausgemacht, weil Sexualität tabuisiert oder als etwas Schlimmes dargestellt wird. Weil Zuwendung und einfaches in den Arm nehmen Mangelware sind oder gar nicht stattfinden. Und auch das gehört zur Sexualität, genau wie das Entdecken des eigenen Körpers und der eigenen Grenzen. Solange das als schmutzig und verboten dargestellt oder peinlich belegt wird, solange wird es damit auch Probleme geben.
Andererseits gibt es natürlich Unterschiede zu anderen Therapeuten. Das Ziel ist es aber immer – auch bei unkonventionell erscheinenden Methoden – den bestehenden Leidensdruck zu lindern.
Wie betrachtest du Sexarbeiter wie Escorts?
Als sichere Möglichkeit, positive Erfahrungen zu schaffen. Natürlich muss bei der Auswahl darauf geachtet werden, dass Schutz und hohe Standards gelten. Das macht die Begleitherren und -damen nicht zu Therapeuten. Sie sind dennoch für viele Menschen wertvoll und kreieren für sie nicht nur schöne Erlebnisse. Sie bieten den Raum, ohne Verurteilung Wünsche zu äußern und zu entdecken, Selbstvertrauen aufzubauen oder einfach Spaß zu haben. Das bringt eine Leichtigkeit mit sich, die vielen fehlt.
Erlebst du selbst das Stigma der Sexarbeit?
Ja. Die Vorurteile sind immer bei denen am größten, die das geringste Wissen mitbringen. Das ist eine traurige Wahrheit. Gut zu wissen ist es aber auch, denn die Einstellung sollte keinen Wert auf eigene Entscheidungen haben.
Nach dem Motto: „Ich habe keine Ahnung, aber eine Meinung.“
Anna: Das bringt es auf den Punkt. Wer sich damit beschäftigt, kommt ganz schnell weg von schmutzigen Geschäften und erkennt den Nutzen, der dahintersteckt.
Der Unterschied zwischen Männern und Frauen
Wer hin und wieder das Deutsche Ärzteblatt aufschlägt, dürfte überrascht sein. Denn selbst die medizinische Fachpublikation beschäftigt sich damit, wie viele Menschen für sexuelle Dienstleistungen bezahlen. Mehr als jeder vierte Mann (26,9 Prozent) hat bereits einen Service in diesem Bereich in Anspruch genommen. Bei den Frauen sind es gerade einmal 0,5 Prozent.
Die Gründe dafür sind multifaktoriell. Es finden sich weniger Angebote, für Frauen spielt die Sicherheit eine bedeutendere Rolle und die Vorurteile sind größer – um nur einige der Faktoren zu nennen.
An zwei Punkten kann allerdings jede Frau sofort etwas ändern: an den eigenen Vorurteilen und der Sicherheit. Denn ein hochwertiger Service bietet deutlich mehr Schutz als eine Zufallsbekanntschaft oder Online-Dating. Wer sich damit vertraut macht und bei Bedarf die Chancen nutzt, nimmt dabei die Bedürfniserfüllung in die eigene Hand und befreit sich zugleich von hinderlichen Fehlglauben.
Wir müssen mit der Stigmatisierung aufhören
Sexarbeit gilt als eines der ältesten Gewerbe der Welt. Die Nachfrage war schon immer da. Dennoch werden eher die Dienstleister stigmatisiert als die Menschen, die ihren Service in Anspruch nehmen. Gänzlich frei von Verurteilungen sind allerdings auch die Kunden nicht.
Unabhängig von der Verteilung von Scham und Stigma sollte das Tabu endlich verschwinden. Dazu kann jeder und jede selbst beitragen, indem zunächst die eigenen Vorurteile abgebaut werden und bei Bedarf mit Bedacht ausgewählt wird.
Ein ehrliches Abkommen zwischen zwei Parteien…
…das gerne vergessen wird
Beim Begriff von Prostitution denken viele noch immer einzig an Hinterhofgeschäfte und zwielichtige Szenen. Dabei verbirgt sich hinter der Sexarbeit ein breites Spektrum an Dienstleistungen, die bei Weitem nicht immer mit Sex zu tun haben.
Oft geht es um Zeit, ums Zuhören und die Zuwendung. Davon abgesehen sollte es jedoch für alle egal sein, ob ein Abenteuer angestrebt wird oder ein lauschiger Abend in guter Gesellschaft. Denn was zählt, sind die Volljährigkeit, Freiwilligkeit und die Sicherheit der Beteiligten. Nicht die uninformierten Meinungen anderer.
Autorin Jessika Mueller